Endlich mal Zeit für die Patientinnen und Patienten, sinkende Kosten fürs System und ein langes, gutes Leben für viele Menschen – diesen großartigen Dreiklang würde ein Plus an Prävention bringen. Doch warum ist die gesamtgesellschaftliche Umsetzung so schwer? Herzchirurg und Bestseller-Autor Dr. Umes Arunagirinathan sagt, wie es besser funktionieren könnte.

Wie viele Ihrer Patientinnen und Patienten haben sich um ihr Herz präventiv gekümmert?

Dr. Umes: Ganz wenige. Stattdessen höre ich regelmäßig Aussagen wie „mir ging es doch wunderbar, ich war vorher noch nie im Krankenhaus und immer gesund“. Erst wenn Freunde oder Angehörige erkranken, denken die meisten Menschen „oh, vielleicht sollte ich auch mal schauen, wie es bei mir aussieht“.

Dass Prävention großes Potenzial besitzt, ist bekannt. Dennoch wird nach wie vor mehr kurativ als präventiv gehandelt. Wer ist schuld daran: Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten oder das System?

Dr. Umes: Es ist ein Mix. Das deutsche Gesundheitssystem fördert durchaus eine Menge verschiedener Maßnahmen. Allerdings werden diese nicht umfassend von der Bevölkerung angenommen. „Schuld“ ist meiner Meinung nach vor allem unsere Psyche. Ganz ehrlich: Wer geht denn gesund zu allen angebotenen Vorsorgeuntersuchungen? Solange wir keine Beschwerden haben, sehen wir keinen Handlungsbedarf. Genau hier muss Überzeugungsarbeit ansetzen. Schließlich schaffen wir es ja auch, das Auto regelmäßig zur Inspektion zu geben, um nicht mitten auf der Autobahn stehen zu bleiben. Oder lassen die Heizung jedes Jahr warten. Das heißt, wir kümmern uns um diverse Maschinen, aber um unsere eigene wichtigste, das Herz, nicht.

Was würde helfen?

Dr. Umes: Ärztinnen und Ärzte bräuchten mehr Zeit, um den Patientinnen und Patienten so viel Wissen weiterzugeben, wie nötig ist, damit sie richtig handeln können. Ihnen muss bewusst werden, dass jeder für seine Gesundheit selbst zuständig ist und ob man ein langes, gutes Leben hat. Dafür ist es wichtig, den Zugang zu den Menschen zu gewinnen, was eben auch Zeit benötigt. Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Alle sagten, wir haben nicht die Kapazität, die Patientinnen und Patienten so weit aufzuklären, dass sie überhaupt wissen, warum sie erkrankt sind und wie sie sich in Zukunft verhalten sollen, um gesund zu bleiben. Diese Aufgabe schieben wir immer in die Niederlassungsebene, und es ist auch eine wichtige Rolle der hausärztlichen Praxis, aber die können doch nicht alles erledigen.

Wie könnte man dies realisieren?

Dr. Umes: Da Krankenhäuser inzwischen Wirtschaftsunternehmen sind, die mit Gesundheit Geld verdienen, sollte ein gewisser Anteil ihres Gewinns für Prävention genutzt werden – als gesellschaftliche Pflicht. Die Gesellschaft hat ja auch das Medizinstudium finanziert. Das haben die Menschen mit ihrer Arbeit und ihren Steuern bezahlt. Und ich finde, das muss man ihnen zurückgeben. Darüber hinaus würden mehr Gesunde die Kassen langfristig entlasten – zudem hätten dann auch Ärztinnen und Ärzte zusätzlich Zeit für Prävention. Das würden wir vielleicht nicht morgen oder übermorgen spüren, aber es käme sicher unseren Nachkommen zugute.

Was sollte man noch tun?  

Dr. Umes: Mein Ansatz ist positive Öffentlichkeitsarbeit. Das war auch mein Impuls, um das Buch „Herzensdinge“ zu verfassen. Ich will den Menschen die Begeisterung für dieses wundervolle Superorgan nahebringen. Ich schreibe ja nicht bloß über Herzkrankheiten – die reine Info zu Diagnostik und Therapie interessiert viele Gesunde nicht – sondern vor allem über die erstaunliche Leistung, die unser elementarstes Organ in jeder Minute bringt. Quasi nebenbei liefere ich den Leserinnen und Lesern weitere Informationen fürs präventive Handeln. Das verstehe ich durchaus als politische Arbeit. Der Buchinhalt ist nicht politisch, aber mein Handeln schon. Denn ich betrete damit als Krankenhausarzt eine Bühne außerhalb der Klinik. Neulich bekam ich in einer TV-Talkshow 17 Minuten Redezeit. So konnte ich Millionen Menschen erreichen und hoffentlich viele ermutigen, Eigenverantwortung für ihre Herzgesundheit zu übernehmen. Das ist die Botschaft, die ich vermitteln will.

Wie ist die Resonanz?

Dr. Umes: Ich erhalte unzählige Leserbriefe, sodass ich kaum mit dem Sichten hinterherkomme. Oft werden sogar Befunde mitgeschickt, und man will einen Termin bei mir haben. Aber ich bin kein Kardiologe, außerdem möchte ich die Allgemeinheit erreichen. Manchmal berührt mich ein Anliegen aber doch. So hat mich neulich eine verzweifelte Frau kontaktiert, die nicht verstand, warum ihr Mann gestorben ist. Sie sind zu Fuß und quasi gesund in die Klinik gegangen, wo ein kleines Defizit operiert werden sollte. Und dann überlebte er die OP nicht. Ich finde es wichtig, dass man sich die Zeit nimmt, den Angehörigen zu erklären, warum das passiert ist, damit sie das verarbeiten können. Das gehört ebenfalls zur Aufklärung. Man darf das nicht abhaken mit einem Brief, der für Nichtmediziner unverständlich ist. Es fehlt einfach Empathie in unserem klinischen Alltag, aber die kostet ja auch Zeit. Denn dafür muss man sich in die Situation der Betroffenen hineinversetzen. In diesem Fall habe ich mir alle Befunde durchgelesen und der Frau die Fragen geschickt, die sie der Klinik stellen sollte.

Prävention also auch für Angehörige?

Dr. Umes: Natürlich. Gerade erst in meinem letzten 24-Stunden-Dienst hatte ich Kontakt mit der Ehefrau eines Patienten, von dem ich glaube, dass er es nicht schaffen wird. Ich habe gestern Abend mit ihr darüber gesprochen und gespürt, was für ein schwerer Stein auf ihrem Herzen liegt. Das hört man in der Stimme. Das ist auch für ihr Herz eine enorme Belastung. Und deshalb ist es wichtig, diese Last wenigstens etwas zu mindern. Ich gab ihr einige Ratschläge, wie sie sich nun verhalten soll. So empfahl ich ihr, nicht einfach so mit dieser Information ins Bett zu gehen, sondern mit ihren Kindern zu sprechen. Dass sie noch mal zu ihrem Sohn, der mit im Haus wohnt, geht, mit ihm einen Tee trinkt und offen redet.

Und ich versprach ihr, sie noch einmal anzurufen, bevor ich die Klinik verlasse. Das habe ich heute Morgen nach meiner Arbeit auch getan. Wir haben uns nie gesehen, nur miteinander telefoniert, aber am Ende sagte sie, ich hätte sie die ganze Nacht begleitet. Und es hätte sie sehr erleichtert zu wissen, dass sich jemand am Bett liebevoll um ihren Mann kümmert und sie würde so gerne meinen Namen wissen. Das war auch für mich sehr berührend. Ich habe für diese Frau, die allein zu Hause war, Verantwortung übernommen. Und dafür bekam auch ich etwas: ganz viel Liebe. Und das hilft letztendlich auch mir, weil ich mit vielen solcher Schicksale konfrontiert bin. Wir Menschen sollten mit unserer Schwere nicht allein sein.

Schaffen Sie es selbst, herzgesund zu leben?

Dr. Umes: Bedingt. Während ich dieses Buch schrieb, wurde mir aber nochmal besonders deutlich, wie defizitär meine berufliche Tätigkeit für meine eigene Gesundheit ist. Auch ich renne von einem Dienst zum nächsten, arbeite mehr als 60 Stunden in der Woche. Allein die Tatsache, dass wir heute noch 24-Stunden-Schichten haben, zeigt, wie stark unser Beruf strapaziert. Dennoch hat die Arbeit am Buch einiges angestoßen. So verlegte ich meine Mahlzeiten fast ausschließlich auf Zuhause. Ich ernähre mich dort bewusster, weil ich selber einkaufe. Ich gönne mir auch mal ein Steak oder ein Eis, weil das zur Lebensfreude dazugehört, aber eben nicht jeden Tag, alles in Maßen. Zudem habe ich meine Freizeit verstärkt nach draußen verlegt. Das bedeutet mehr Geselligkeit und Bewegung. Zum Beispiel laufe ich regelmäßig zur Arbeit zu Fuß, insgesamt eine Stunde hin und zurück. Und: Ich sage öfter nein.

Was ist Ihr ganz persönlicher Gesundheits-Tipp?

Dr. Umes: Ab und an in den blauen Himmel schauen. Das habe ich von meiner Mutter gelernt und meine das nicht nur als Metapher. Man sollte tatsächlich ab und an ins Weite gucken, ohne irgendwas wahrnehmen zu müssen. Einfach den Gedanken freien Lauf lassen. Das baut Stress ab, das Gehirn entspannt und die Seele findet Frieden.

Haben Sie neue Pläne? Machen Sie weiter nach drei Büchern?

Dr. Umes: Klar. Demnächst plane ich einen Podcast zu unterschiedlichen Themen. Titel: Bei Dr. Umes.

Posted by:Gerti Keller